Kolonialismus

In einem Interview mit Andreas Eckert, Professor für die Geschichte Afrikas am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität Berlin äußert sich plausibel zum Begriff Kolonialismus.

Der deutsche Staat muss den Opfern seiner Kolonialherrschaft eine Stimme geben. Auch das gehört zur Erinnerungspolitik.

Von Andreas Eckert

Selbst unter den Kritikern von Claudia Roths „Rahmenkonzept Erinnerungspolitik“ scheint weitgehend Einigkeit darüber zu herrschen, dass die Kolonialgeschichte stärker in der deutschen Erinnerungslandschaft verankert werden muss. Daraus ergibt sich zwingend die Frage, wie eine thematische Erweiterung der staatlichen Gedenkpolitik um das Thema Kolonialismus vor dem Hintergrund der neueren Forschung gestaltet werden kann.

Ist eine nationalstaatliche Begrenzung der öffentlichen Erinnerung in diesem Fall sinnvoll, zumal Rassismus und Kolonialismus transnationale Phänomene waren und sind, die sich nur bedingt ins Gehäuse einer Nationalgeschichte pferchen lassen? Ein Großteil der kolonialen Verbrechen fand zudem in den Kolonien selbst statt: Einiges wurde zwar in Deutschland geplant, konzipiert und ideologisch bestückt, zugleich spielten aber strukturelle Gegebenheiten, situative Bedingungen und die Interessen der men on the spot in den kolonisierten Regionen eine wichtige Rolle.

Und wäre es angemessen, allein auf die „staatlich verantworteten“ Verbrechen in den deutschen Kolonien Bezug zu nehmen? Viele Kolonialgräuel wurden von Siedlern verübt, die keineswegs immer im Einklang mit Berlin oder den Administrationen vor Ort agierten. Schließlich: Wie ließe sich gegebenenfalls einer der zentralen Aspekte der aktuellen Debatten abbilden, die Frage nämlich, wie stark sich die koloniale Erfahrung und damit eng verknüpfte rassistische Ideologien und Praktiken in Deutschland auch lange nach dem Ende der formalen Kolonialherrschaft 1919 manifestierten, ja bis heute die deutsche Gesellschaft prägen?

Mentaler und handfester  Kolonialismus

Die Beschäftigung mit der Kolonialgeschichte hat seit der Jahrtausendwende in Deutschland einen Boom erlebt. Nicht nur in Berlin und Hamburg, auch in vielen anderen Städten und Regionen setzte die Suche nach kolonialen Spuren ein. Solche Unternehmungen betonten vor allem die Perspektive auf das

„Imperium zu Hause“, die Rolle von kolonialen Diskursen und öffentlicher Repräsentation. Die Analyse der imperialen Phantasien seit dem Kaiserreich hat auch für Deutschland eine kollektive Haltung zum Vorschein gebracht, die weit über organisierte Kolonialinteressen hinaus in den Alltag hineinwirkte. Zugleich entstand ein wenig der Eindruck, Kolonialismus habe größtenteils in den Köpfen stattgefunden.

Wesentlich handfestere Bezüge stellen die Forschungen zu den Kriegen und Gewalttaten in den deutschen Kolonien her. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht bis heute der Genozid an den Herero und Nama im damaligen Deutsch- Südwestafrika. Besondere Brisanz und Aufmerksamkeit erfuhr dieser Krieg dadurch, dass einige Historiker, allen voran Jürgen Zimmerer, eine Verbindung von „Windhuk nach Auschwitz“ konstruierten und eine direkte kausale Ursachenkette vom Völkermord in Afrika zum Holocaust behaupteten. Diese These hat sich nicht wirklich erhärten lassen. Aufschlussreich ist jedoch, dass sich koloniale Themen zunächst über den Holocaust glaubten definieren zu müssen, um ihre Relevanz zu bekräftigen. Das hat sich inzwischen geändert.

Trotz weiterhin kritischer Stimmen hat sich ein breiter Konsens herausgebildet, der die kritische Aufarbeitung dieser Thematik für unabdingbar hält.

Unterschiedliche Formen der Gewalt

Kritiker der Kontinuitätsthese haben früh darauf verwiesen, dass der Herero- Krieg mit den zahlreichen Kolonialmassakern des 19. und 20. Jahrhunderts strukturell weit enger verwandt ist als mit dem Holocaust. Dies gilt etwa für die amerikanische Eroberung und Kolonisierung der Philippinen zwischen 1898 und 1902 durch einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen eine entlang

„rassischer“ Kriterien definierte Gesellschaft. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass europäische und andere Kolonialmächte in Sachen Kolonialherrschaft voneinander lernten und es so etwas wie ein transkontinentales „koloniales Archiv“ oder auf Neudeutsch eine „Imperial Cloud“ gab, die abgerufen werden konnte. Für die Mächte des Hochkolonialismus war es jedenfalls üblich, über den nationalen Tellerrand zu blicken und sich etwa an Praktiken früherer Kolonialkriege zu orientieren.

Der koloniale Staat war grundsätzlich immer gewaltbereit – in den deutschen Kolonien wie anderswo. Die Gewalt trat freilich in sehr unterschiedlicher Gestalt auf. Sie reichte von alltäglichen Übergriffen und massiven Körperstrafen bis zu brutalen Kriegen gegen ganze Gesellschaften. Längere Phasen der Zurückhaltung und Momente drastischer Eingriffe wechselten sich ab.

Aufgrund von Budgetzwängen und Personalmangel stand die Kolonialherrschaft stets auf dünnem Eis. Deshalb war sie auf lokale Herrscher angewiesen, die mit ihr kooperierten. In Kamerun gehörte Rudolf Manga Bell zunächst zu diesen Kollaborateuren. Als Jugendlicher hatte er mehrere Jahre in Aalen und Ulm verbracht, wo er das Zeugnis der mittleren Reife erlangte. In seiner Funktion als

„Häuptling“ in der wichtigen Hafenstadt Douala pflegte er gute Beziehungen zur deutschen Kolonialverwaltung. Bei seinem Amtsantritt versprach er, nach Kräften „die Interessen der kaiserlichen Regierung fördern zu helfen“. Dabei profitierte er politisch und finanziell von seiner Position.

Desinteressen an den ehemaligen  Kolonien

Rudolf Manga Bell gehörte zu den Afrikanern, denen es zeitweise gelang, ihre eigenen Interessen in und mit dem Kolonialismus durchsetzen. Zugleich agierte er stets im Schatten kolonialer Gewalt. Umfassende Enteignungsmaßnahmen der Verwaltung in Douala machten ihn dann zu einem entschiedenen Gegner der Kolonialmacht. Er schrieb Petitionen an den Reichstag, mobilisierte Parlamentarier, Missionare und Journalisten für seine Sache und gegen den offensichtlichen Rechtsbruch der Enteignung. Die Kolonialadministration beschloss deshalb, ihn loszuwerden. Zunächst dachte man daran, Bell zu verbannen, doch der Ausbruch der Ersten Weltkriegs und die Furcht vor einem Aufstand in Douala ließen die Kolonialherren ein Exempel statuieren. Manga Bell wurde wegen Hochverrats angeklagt und endete am Galgen.

Dieser Justizmord im kolonialen Kamerun hat inzwischen auch in Deutschland große Aufmerksamkeit erfahren. Ansonsten haben sich viele Studien zu den deutschen Kolonien einer eher zentrumsorientierten Kolonialgeschichte verschrieben, die sich wenig für die Gegebenheiten in den Kolonien und die Kolonisierten – außer in ihrer Funktion als Projektionsfläche oder Vertreter der afrikanischen Diaspora – interessiert. Stimmen aus den ehemaligen deutschen Kolonien spielen in den gegenwärtigen Debatten weiterhin kaum eine Rolle.

Dies offenbart sich eindrucksvoll in den mit Verve geführten Auseinandersetzungen um die Rückgabe kolonialer Artefakte. Zugleich nehmen viele schwarze Menschen in Deutschland und ihre Organisationen regen Anteil an den Kontroversen über den deutschen Kolonialismus. Nicht zuletzt ihrer Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass das Thema in der politischen und publizistischen Öffentlichkeit dauerhaft präsent ist.

Notwendigkeit einer erweiterten  Gedenkkultur

Schon diese Skizze macht deutlich, dass sich das Thema Kolonialismus nur schwer in das bisherige, auf die Verbrechen des Nationalsozialismus und der DDR-Diktatur ausgerichtete Konzept zwängen lässt, das die Leiter der

Gedenkstätten offenbar als im Kern unantastbar ansehen. Noch taugt die Kolonialgeschichte als Ornament, dem etwa mit einer zentralen Gedenkstätte Genüge getan werden könnte. Dagegen böte die Einbeziehung des Kolonialismus die Möglichkeit einer Neuausrichtung der staatlichen Gedenkpolitik, ohne die Einzigartigkeit des Holocaust infrage zu stellen. Dies wäre zweifellos ein komplizierter und mühsamer Prozess, und das Vorgehen der Kulturstaatsministerin, ihr Konzept ohne eine vorausgehende breite Diskussion zu verkünden, hat ihrer Sache nicht geholfen. Gleichwohl gibt es keine vernünftige Alternative zu einem runden Tisch, an dem nicht nur die Leitungen der etablierten Gedenkstätten und die Ministerin Platz nehmen müssen, sondern ebenso Experten für den deutschen Kolonialismus und Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen, die sich mit der Thematik seit vielen Jahren auf vielfältige Weise auseinandersetzen.

Andreas Eckert ist Professor

für die Geschichte Afrikas an der Berliner Humboldt-Universität.