Die Familienbibel und eine Peitsche des Nama-Anführers Hendrik Witbooi reisten vergangenes Jahr von Stuttgart nach Gibeon, einem kleinen Ort in der Nähe von Windhoek in Namibia. Ein Symbol für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit und eine Entschuldigung für das große Leid, das deutsche Soldaten den Namibiern angetan haben.
Die Witkams und ihr Anführer, der Prophet Hendrik Witbooi
Christine Hardung beschreibt anschaulich die Rolle der Witkams und die Bedeutung ihres Anführers Hendrik Witbooi (God, the Warlord and the Way of the Ancestors). Es ist nicht überraschend, dass Friedrich Heinrichs in seinen Berichten Vorfälle beschreibt. in denen die Witkams und Hendrik Witbooi die Bethanier bedrängen.
Die Oorlams
Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zogen sich die Oorlam, ein Volk unterschiedlicher Herkunft – Deserteure, entflohene Sklaven und Khoekhoe, die durch die Expansion der Buren in ihr Territorium ihres Weidelandes beraubt worden waren – in die nordwestliche Grenzregion der Kapkolonie zurück. Ihre soziale Existenz basierte auf der grundlegenden Erfahrung von Gewalt. Sie organisierten sich in militarisierten, gesellschaftspolitischen Einheiten, den sogenannten Komandos, und wanderten in mehreren Wellen in den südlichen Teil des heutigen Namibia aus. In den 1840er Jahren überquerte eine der Oorlam-Gruppen, die Khowese (Witbooi), den Oranje. Räumlich und sozial deterritorialisiert und nach einer langen Zeit des Wanderns in der Grenzregion auf beiden Seiten des Flusses fast völlig verarmt, baten sie //Oaseb, den Häuptling des „Großen Namaqualandes“, ihnen einen Ort zum Ansiedeln zur Verfügung zu stellen. Im Jahr 1863 ließen sie sich schließlich überwiegend in Gibeon nieder.
Die Oorlams und Hendrik Witbooi
Einige Jahrzehnte später hatte Hendrik Witbooi, ein Nachkomme der ersten Einwanderergeneration, eine Vision, die ihn anwies, seine Anhänger im Auftrag Gottes nach Norden zu führen – eine Mission, die damit die damit verbundenen Überfälle und bewaffneten Konflikte rechtfertigte. Witbooi beanspruchte das alleinige Recht, einen Weg zu beschreiten, der seiner Ansicht nach von den Vorfahren der Gruppe bestimmt worden war und der zu einer strategisch günstig gelegenen Schanze in den Bergen führte. Somit war der Weg der Vorfahren einerseits ein territorialer Anspruch und darüber hinaus eine immaterielle Richtung und Führung, die als Rechtfertigung für die militärische Expansion in das Gebiet der Herero angesehen wurde. Das Ziel bestand darin, die Nama und Oorlam zu vereinen und sie nach Norden zu führen, wie es ihre Vorfahren vorausgesehen und gewünscht hatten. Hendrik Witbooi versammelte dann in den 1880er Jahren seine Anhänger, die Witkam, und führte sie auf mehreren Feldzügen nach Norden.
Die Befehlsgewalt von Hendrik Witbooi
Die „Residenz“ von Hendrik Witbooi ist die Farm Hornkranz. Vor dort aus steuert er seine Aktionen. Obwohl der Kern seiner Anhänger aus seinem „eigenen Volk“, den Witboois, bestand, wurde nach seinem Konzept der Gefolgschaft die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nama-Oorlam-Gruppe als bestimmender Faktor für die Zusammensetzung eines Kommandos ersetzt durch das Bewusstsein jedes Einzelnen, für eine „höhere Sache“ zu kämpfen. Daher konnte jeder, der diese Überzeugung teilte, ein Witkam werden, d. h. ein Mitglied von Witboois Gefolgschaft. Für die Witkam war der charismatische Hendrik Witbooi „nicht nur der Anführer, sondern tatsächlich ein Prophet“, dem sie nach Einschätzung eines Zeitgenossen „in blindem Gehorsam folgten“. Der Händler Conradt, der in den 1880er Jahren Munition an Witbooi verkaufte, schrieb: „Er war der einzige Hottentotten-Hauptmann, der wirklich Macht über seine Männer hatte.“ Den anderen gehorchte man nur, wenn ihre Männer Lust hatten, ihnen zu gehorchen.
Strenge Kampfregeln
Witbooi ordnete die Plünderungs- und Kampfaktivitäten der Plünderungskrieger in seinem Komando strengen Regeln unter: sexuelle Abstinenz vor einem Feldzug, keine Plünderungsüberfälle außer wenn er sie autorisierte, Bestrafung von Diebstählen auch während eines Feldzugs, Rückgabe aller illegal geplünderten Güter ihre Besitzer und die Ablehnung aller magischen Praktiken. Doch der Kriegsherr verordnete dem Komando nicht nur militärische Disziplin, er verknüpfte sie auch mit der Religion. Witboois Anhängerschaft o kann als „charismatische Gemeinschaft der Gewalt“ angesehen werden, die als Kampf- oder Plünderungsformation eine „göttliche Mission“ hatte. Die alte, auf Kleingruppenidentität basierende Gefolgschaft wurde so in eine auf Glauben basierende Gefolgschaft umgewandelt.
Die Beziehungen zwischen christlicher Religion und Gewaltausübung
Die Publikation von Christine Hardung konzentriert sich auf die Witkam mit ihrer besonderen Kombination aus Enttraditionalisierung und charismatischer Führung einerseits und Witboois Verweis auf die Abstammung andererseits und wirft einen umfassenderen Blick auf die Beziehung zwischen Gewalt und Religion in den durchgeführten Kriegen und Überfällen von den Nama-Oorlam im 19. Jahrhundert. Es wird gefragt, wie die christliche Religion von Hendrik Witbooi angepasst und neu definiert wurde, um sie in die Wirtschaft und Kultur eines auf Raubzügen basierenden Lebensstils, wie er damals von den Nama-Oorlam praktiziert wurde, integrieren zu können. Sie beschränkt sich auf die 1880er Jahre, eine Zeit „im Schatten des Schutzes“, als deutsche Kolonialherren ins Land eindrangen, Namaqualand aber noch nicht unter ihre Kontrolle brachten. Dies betrifft also genau die Epoche, in der Friedrich Heinrichs als Missionar in Bethanien tätig ist.
Hendrik Witbooi als politischer Führer und Prophet
Aus diesem Zeitraum können zeitgenössische Quellen Aufschluss darüber geben, wie Hendrik Witbooi die Macht seiner Vorfahren erlebte und sich vorstellte und wie er sie militärisch und politisch einsetzte, parallel zu dem, was er für die Ermächtigung Gottes hielt, die ihm zur Erfüllung seiner Mission verliehen wurde. Die Bewegung von Hendrik Witbooi steht für den Beginn eines Prozesses, der mit der Ankunft von Missionaren in Afrika begann, eines Prozesses, in dem „das Christentum afrikanisiert und Afrika christianisiert wurde, was auf allen Seiten ein neues Selbstbewusstsein hervorbrachte“ und der „Wege offenbarte, in denen Religion schafft Macht und zeigt, wie Menschen auf dieses Bewusstsein reagieren können, sowohl als Kolonisatoren als auch als Kolonisierte.“ Sein Aufbruch in den Norden berührt Fragen der Überschneidung von „Christentum und Politik, oder, allgemeiner ausgedrückt, Religion und Säkularität“. In der namibischen Gedenkkultur ist der militärische und politische Führer und Prophet Hendrik Witbooi zum Symbol des Widerstands gegen die Kolonialherrschaft im Südwesten Afrikas geworden, insbesondere für das Trauma des Völkermordkrieges der deutschen Kolonialtruppen gegen die Nama-Oorlam und die Herero im frühen 20. Jahrhundert.
Hendrik Witbooi und seine Tagebücher
Seine berühmten „Tagebücher“ offenbaren seinen politischen Weitblick und auch sein grundsätzliches inneres Ringen um das Verhältnis von Gewalt und christlicher Ethik. In diesen Notizen reflektiert Witbooi nicht die Khoisan-Religion; Dieses Thema ist eine diskursive Leerstelle. Dennoch blieb der indigene Religionsbegriff in Witboois politisch-religiöser Praxis präsent, insbesondere in der Bedeutung, die er den Vorfahren und ihren Anweisungen beimaß. Der Glaube, von Gott gesandt zu sein, die Stärkung religiöser Erfahrung, der Anspruch auf moralische Autorität in Krisenzeiten sind charakteristisch für die Führer prophetischer Bewegungen. Witboois sowohl politisch als auch religiös motiviertes Handeln trug die Elemente einer solchen Persönlichkeit. Er wurde als zutiefst religiöser Christ charakterisiert. Sein Verhältnis zum Christentum und zu den Missionaren der Rheinischen Missionsgesellschaft ist sowohl aus missionarisch-historisch-theologischer als auch historisch-anthropologischer Perspektive ausführlich beschrieben und im Quellenmaterial dokumentiert. Neuere Studien, die sich aus sozioanthropologischer Perspektive mit transkulturellen Phänomenen von Religionen befassen, plädieren dafür, die Dichotomisierung aufzugeben und Formen der Religiosität, die in räumlich disparaten Situationen entstanden sind, in ein „gemeinsames globalisiertes räumliches/zeitliches“ Gefüge einzuordnen. Unter Bezugnahme auf Prozesse der Transkulturation und Transfergeschichte, die sich aus der protestantischen Missionstätigkeit in Afrika ergaben, ist zu beachten, dass die zwei Religionssysteme, die christliche und in ihren Ansätzen die Khoekhoe-Religion, mehr miteinander interagierten als sich vermischten. Elemente indigener Religionen, in denen Prophezeiung ein „gemeinsames Mittel zur religiösen Innovation, Wiederbelebung oder Reformation“ war, lassen sich häufig in afrikanischen christlichen prophetischen Bewegungen identifizieren. Der prophetischen Bewegung der Witkam „fehlten“ jegliche Muster des „Nativismus“ und sie versprach nicht die Rekonstruktion realer oder neu erfundener „traditioneller“ kultureller Elemente.“ Dennoch zeugt die Präsenz der Vorfahren in Witboois Mission von der Allgegenwärtigkeit der vorchristlichen Vergangenheit in Witboois politisch-religiöser Bewegung.
Hendrik Witbooi will Frieden
Ausdrucksstark ist das folgende Schreiben von Hendrik Witbooi an Leutwein vom 11. Juli 1894:
„Naukluft, 11. Juli 1894
Mein lieber Kaiserlich deutscher Gesandter Major Leutwein!
Ich schicke Ihnen diesen Brief als Antwort auf Ihr Ersuchen, eine ausführliche und klare Antwort nach Windhuk zu senden, wie ich sie mir wegen des Schutzvertrags in der Zwischenzeit der zwei Monate überlegt habe. Bevor ich Euer Wohlgeboren auf diese Punkte Antwort gebe, halte ich es für nötig. Ihnen zuerst etwas anderes mitzuteilen.
I. Nach Abschluß unseres Friedens bin ich nach unten gegangen und hörte dort und sah, daß der alte Robert Duncan verhaftet, nach Windhuk gebracht und dort von Ihnen ins Gefängnis eingeliefert worden ist, unter der Beschuldigung, mir Schießbedarf geliefert zu haben. Ich kann den Mann wahrhaftig entschuldigen und ihn davon freisprechen. Er ist in Sachen Schießbedarf unschuldig. Nicht er, sondern der große Mann der Companie war es, der mir Schießbedarf besorgt hat; und wenn sich jemand wegen des Schießbedarfs schuldig gemacht hat, so ist es der große Mann der Companie. Euer Wohlgeboren können also Duncan nicht dafür verantwortlich machen, ihn gefangensetzen und bestrafen. Ich weiß die Sache bestimmt und kann ihn davon freisprechen. Die Companie hat mir Schießbedarf auch nicht während des Krieges mit Fancois geliefert, sondern vorher, zu der Zeit, als ich noch mit den Hereros kämpfte. Außerdem ist dieser Schießbedarf verbraucht. Den Schießbedarf, der jetzt in meinem Besitz ist und mit dem ich bis jetzt gegen Francois gekämpft habe, habe ich von Ihren eigenen Untertanen in Windhuk und Rehoboth gegen Pferde gekauft, kurz bevor Francois mich angriff. Damit habe ich bislang gegen Francois gekämpft. Leute frei, die in Bethanien im Gefängnis sitzen.
II. Auf Ihre Frage wegen des Schutzvertrages antworte ich wie folgt: Über diese Sache habe ich ernstlich nachgedacht. Aber lieber hochwohlgeborener Freund, ich kann Ihnen nur meine alte Antwort wiederholen. Ich kann die Sache mit dem Schutz nicht durchschauen. Die Sache erscheint mir sehr schwerwiegend und unmöglich, denn ich kann und will nicht unter Ihnen stehen. Ich bitte Sie von Herzen, lieber Freund, lassen Sie mir doch meine Selbständigkeit. Ich will unabhängiger Kapitain in meinem Land und über mein Volk sein, denn das ist mir lieb und genug, dazu bin ich geschaffen und bin es seit langem so gewohnt. Mein freies, selbständiges Leben bringt weder mir noch anderen Menschen Schaden, und ich lebe dieses freie Leben im Frieden mit mir selbst, will auch mit anderen Menschen Frieden halten und in Frieden leben. Ich werde Euch und anderen Menschen nichts Böses durch Krieg zufügen.
III. Den Frieden, den ich mit Ihnen geschlossen habe, den habe ich nicht für eine bestimmte Zeit, auch nicht für zwei Monate, sondern für unser ganzes Leben abgeschlossen. Er ist auch nicht mit Ihnen allein, sondern mit der ganzen Menschheit, die auf Gottes Erdboden lebt, geschlossen. Zum Schluß versichere ich Euer Wohlgeboren nochmals, daß durch mich kein Blutvergießen zwischen uns entstehen soll. Endlich hoffe ich, daß Sie mir eiligst Antwort auf diesen Brief schicken werden. Ich schließe hiermit und schicke Euer Wohlgeboren freundliche Grüße. Ich verbleibe Ihr Freund und Kapitain, Hendrik Witbooi.„
Die folgenden Zitate stammen von den Seiten 200 ff.:
Zitat auf der Seite 232
Zitat auf der Seite 241: Endlich Friedern – Hendrik Witbooi ergibt sich:
Seite 357
Seite 360
Seite 400
Seite 76
Seite 110
Seite 111
Seite 146
Seite 427
Der Tod Hendrik Witboois
Am 29. Oktober 1905 wird Hendrik Witbooi tödlich verwundet. Wilhelm Preiser, ein Gefreiter der Kaiserlichen Schutztruppe Deutsch Südwestafrika, ist als Gegner an dem Gefecht beteiligt und schildert aus seiner Sicht das Geschehen (Zitat und Bild aus: Deutsche Reiter in Südwest, Dincklage-Campe, Friedrich von Berlin [u.a.], [1908], Seite 369 ff.):
Kommentar von Mühlhaupt
Mit Sicherheit waren die unrühmlichen Raubzüge des charismatischen Hendrik Witbooi 30 Jahre lang die beachtenswertesten Ereignisse im Grossnamaland. Etliche Namastämme wurden durch ihn nahezu ausgerottet. In der heute politisch oportunen Literatur wird Hendrik Witbooi oft als Führer aller Nama und Orlam hochstilisiert. Auch Hendrik Witboois Titel als „Befreiungskrieger“ sollte kritisch betrachtet werden angesichts der herausragenden Bedeutung seiner deutschfreundlichen Witbooi-Hilfstruppen bei der Bekämpfung von anti kolonialen Aufständen. Heutzutage steht Hendrik Witbooi für den „100 Jährigen Befreiungskrieg der Namibianer“ wie Napoleon für das „Siegreiche Frankreich“. Zitat aus 2016 : “ Verbunden mit Eingliederung der historischen Figur in das nationale Narrativ wird (Hendrik) Witbooi so zum Begründer eines hundert jährigen Befreiungskampfes, der schliesslich – so das Narrativ- von der SWAPO siegreich beendet werden konnte.“ („Postkoloniale Gegenbilder des Erinnerns an deutschen Kolonialismus“ von Fabian Lehmann 2016.)
Geschichte Bethaniens, Seite 44